Die Reform des Sozialstaats wird besonders sichtbar, wenn sie mit massiven Umbrüchen einhergeht – wie etwa bei den Hartz-Reformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Tatsächlich ist dieser Umbau jedoch ein kontinuierlicher Prozess: Im Bereich sozialstaatlicher Leistungen ist Veränderung eine nahezu permanente Erfahrung.
Der soziale Sektor unterliegt dem Dilemma, dass Leistungsträger*innen und -erbringer*innen in Zeiten knapper öffentlicher Kassen kostensparend und wirtschaftlich, dabei gleichzeitig auch bedarfsgerecht und effektiv arbeiten sollen. In diesem Kontext sind fünf Trends prägend:
Fallsteuerung oder Case Management beschreibt die systematische Koordination der verschiedenen Aufgaben, um Hilfeempfänger*innen Ressourcen bedarfsgerecht und gezielt zur Verfügung zu stellen. Dabei erfolgt die Leistungserbringung in einem „sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis“ zwischen dem Leistungsempfangenden, dem/der Kostenträger*in und der Einrichtung, welche die Leistung erbringt.
Dementsprechend unterscheidet die Fallsteuerung drei Ebenen:
Das Fallsteuerungssystem organisiert soziale Arbeit effektiv und effizient. Als zentrales Instrument bietet es Struktur und Orientierung für die Gesamtorganisation und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der 1:1-Situation.
Im SGB II wurden für den Personenkreis der Erwerbslosen in den letzten 15 Jahren wichtige Professionalisierungsschritte unternommen. Die Behindertenhilfe ist seit der Reform des Bundesteilhabegesetztes (BTHG) dabei, ähnliche Schritte zu gehen. Es ist daher konsequent, dass die geplante Reform des SGB VIII auch in der Jugendhilfe die Fallsteuerung ins Zentrum stellen will. Dies kommt den Bürger*innen zugute und ermöglicht einen gezielten Einsatz der personellen und finanziellen Ressourcen.
Gerade in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist die organisationsübergreifende Zusammenarbeit von großer Bedeutung. Das zeigt sich zum Beispiel bei der Betreuung von geflüchteten Menschen. Erfolgreiche soziale Arbeit erfordert einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen sowie sein soziales Umfeld und liegt damit quer zu einzelnen Sozialgesetzbüchern.
Damit die Zusammenarbeit gelingt, muss über Aufgaben und Verantwortlichkeiten der beteiligten Akteurinnen und Akteure Transparenz hergestellt werden. Dies betrifft in der Regel Zuständigkeitswechsel, Informationsaustausch, die individuelle Förderplanung sowie das Management von Angeboten und Maßnahmen. Sobald diese Schnittstellen systematisch identifiziert, benannt und bewertet sind, lassen sich Ansatzpunkte für die Verbesserung der Kooperation erarbeiten.
Die systematische rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit mit entsprechenden Organisationsstrukturen steckt vielfach noch in den Kinderschuhen. Mit der Sozialraumorientierung gibt es ein anerkanntes Fachkonzept, das diese Idee mit Leben füllen kann. Auf absehbare Zeit wird es wohl bei dem harten Kampf zwischen der Fürsprache durch zahlreiche Fachexpert*innen auf der einen Seite und der Beharrlichkeit der Verwaltungsstrukturen auf der anderen Seite bleiben. Eine übergreifende Zusammenarbeit wird durch diese Strukturen zumindest erschwert, zum Teil sogar unmöglich gemacht.
Wohlgemerkt: Die Idee ist und bleibt seit 30 Jahren richtig, der Trend darf stärker werden.
Was einmal als hoheitliche Aufgabe für Bittsteller*innen begann, entwickelt sich mehr und mehr zu einer Koproduktion auf Augenhöhe. Das Bild hilfebedürftiger Leistungsempfänger*innen, die ihr Leben nur in Abhängigkeit von verschiedenen Sozialverwaltungen fristen, ist nicht mehr zeitgemäß.
Auch wenn der Begriff der Bürger*innenorientierung vielerorts abgenutzt sein mag: Die Grundidee, dass die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung in erster Linie den Bürgerinnen und Bürgern und nicht dem Staat dienen, muss zum Selbstverständnis moderner Sozialverwaltungen im 21. Jahrhundert gehören. Digitale Technologien können dies unterstützen, sind dabei indes nur Mittel zum Zweck.
Das neue Selbstverständnis, Erbringer*in von Dienstleistungen und nicht Verrichter*in hoheitlicher Aufgaben zu sein, ist noch lange nicht in allen deutschen Jugendämtern, Sozialämtern und Arbeitsagenturen angekommen. Doch eine Trendumkehr ist im Jahr 2021 nicht denkbar. Spätestens seit die digitalen Services (à siehe Trend 4) Einzug gehalten haben und soziale Leistungen über Online-Portale, Social Media und Co erbracht werden, sind Begriffe wie Nutzerfreundlichkeit und „Customer Journey“ auch in der Sozialen Arbeit gegenwärtig. Und damit stellt sich perspektivisch nicht mehr die Frage nach Augenhöhe, sondern vielmehr die Frage: Wer steuert hier eigentlich wen?
Ein Profiling für SGB II-Empfänger*innen durch eine App? Der Elterngeld-Antrag online über www.elterngeld-digital.de? Die Initiierung von Unterhaltsvorschuss über die Jugendamts-Website? Persönliche Beratung über Videokonferenz-Systeme?
Digitale Services in der sozialen Arbeit sind heute schon Realität; und dabei stehen wir erst am Anfang der Digitalisierung öffentlicher Leistungen. Das aktuelle Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie macht dies mehr als deutlich.
Bei aller gebotenen Skepsis über automatisierte Arbeitsabläufe und künstliche Intelligenz – digitale Services sind aus dem Leben im 21. Jahrhundert in Deutschland nicht mehr wegzudenken. In der sozialen Arbeit deutet sich eine Kombination aus zentralen Daten- und Informationszentren an: Administrative Dienstleistungen für die Bürger*innen werden vollautomatisiert erbracht. Hochwertige Beratungsdienstleistungen hingegen finden weiterhin vor Ort statt, weil Rat und Unterstützung in einer persönlichen Krise oder bei wichtigen Fragen besser im direkten, vertrauensvollen Gespräch geleistet werden können.
Die Differenzierung in automatisierte Tätigkeiten einerseits und vertrauensvolle Beziehungsarbeit andererseits wird kennzeichnend für die soziale Arbeit werden. Diese Entwicklung muss aktiv gesteuert und begleitet werden; im Sinne der Verwaltungsmitarbeitenden genauso wie im Sinne der Bürger*innen. Loslassen-Können ist genauso wichtig wie die Bereitschaft, vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.
Denn spätestens, wenn der „Zwang“ zur Beratung in den Sozialgesetzbüchern wegfällt, unterliegen Sozialverwaltungen einem Erwartungs- und Legitimationsdruck: Denn Bürger*innen nutzen die Beratung von Sozialämtern, Wohngeldstellen, Jugendämtern und Co nur dann freiwillig, wenn ihnen dort professionell und respektvoll geholfen wird. Andernfalls bleiben sie einfach weg – unabhängig davon, ob sie passende Hilfsangebote von anderer Stelle erhalten können.
Die Unterstützung durch soziale Arbeit wird anlassbezogen auf unterschiedlichen Kanälen erfolgen – vom Telefonat bis zum Walk & Talk, von der Videokonferenz bis zum Messenger-Dienst, je nach Bedürfnis der Bürger*innen. Diesem Legitimationsruck werden sich Sozialverwaltungen stellen müssen.
Zu wenig Arbeit für eine schrumpfende Bevölkerung? Nicht undenkbar.
Die Digitalisierung schafft womöglich neue Herausforderungen und Widersprüche, um die sich der Sozialstaat kümmern muss. Vielleicht geht uns die Arbeit tatsächlich aus; oder aber Jobprofile ändern sich und neue Arbeitsfelder treten hinzu.
Wie auch immer es kommen mag: Es gibt aktuell ein Fenster der Möglichkeiten, in dem neue Sozialstaatsmodelle denkbar sind. Sie stehen nicht mehr in der Tradition, Erwerbsarbeit für alle Bürger*innen im erwerbsfähigen Alter zum allein sinnstiftenden Ziel zu machen. Auch Akteur*innen und Akteure, die Konzepte wie das Bürgergeld noch vor zehn Jahren als Utopie bezeichnet haben, sprechen sich mittlerweile für deren seriöse Prüfung aus.
Diese mögliche andere Sicht auf Arbeit schafft potenziell neue Allianzen und stellt jahrhundertealte Glaubenssätze in Frage. Zum Wohle einer neuen Bürgergesellschaft, einer Neuverteilung von Macht und Vermögen, oder nur als Instrument zur Festigung der bestehenden Verhältnisse? Das wird die Zukunft zeigen. Ein Staat, dem gegebenenfalls ein bedeutsamer Umfang an Erwerbsarbeit ausgeht, muss die soziale Frage völlig neu denken und anders bewerten als in den letzten 150 Jahren. Mit weitreichenden Auswirkungen nicht nur für soziale Sicherungssysteme und deren Finanzierung, sondern für sämtliche gesellschaftlichen Bereiche. Das ist viel weitreichender als Arbeit 4.0 oder New Work, das ist Sozialstaat und Gemeinwesen 4.0.